20 Jahre Derevo. Was ist in dieser Zeit nicht alles über die russische Tanztheatertruppe um Anton Adassinsky geschrieben worden. Die Archaiker, die mystifizierenden Romantiker, die Träumer. Jetzt machen sie dem Publikum im Festspielhaus Hellerau ein Geburtstagsgeschenk. Eigentlich ist es ein Geburtstagsgeschenk an sich selbst. „La divina commedia“ ist Derevos eigentliches Baby, das Stück, das mit seinem komplexen Stoff den Wesenskern des künstlerischen Selbstverständnisses Adassinskys trifft wie kaum ein anderes. Hölle, Leuterung, Paradies. Nicht von dieser Welt und trotzdem zutiefst menschlich. Die Reise durch die drei Reiche beginnt mit brachialem Humor. Genau die richtige Einstellung für den direkten Weg in die Hölle. Der Mensch ist eingebildet, selbstverliebt. Irgendwo zwischen Nosferatu und Joker. Sinnestrunken stolpert er durch Welten gewohnt suggestiver Bilder. Irgendwann bilden Lichtstrahlen die Saiten eines überirdischen Instrumentes.
Das Stück ist seit seiner Entstehung deutlich gereift und hat weiter an Tiefe gewonnen. Es ist nachdenklicher geworden. Die Kontraste zwischen rauschhaften, lauten Szenen und stillen Momenten sind auffälliger. Ein Mensch wird aus der Mitte des Publikums wortwörtlich hervorgezogen und entpuppt sich als Jesus mit der Dornenkrone. Gott kommt also tatsächlich von den Menschen. Deshalb werden ihm die Füße gewaschen. Es ist Ostern. Ganz gleich, ob dieser Gott gnädig ist, am Ende steht die Versöhnung. Und das Publikum wird mit dem memento mori einer Sanduhr entlassen.
Zur Einordnung dieser Bildsprache empfiehlt es sich, im Vorfeld den Soloabend von Pavel Semchenko vom AKHE Theater (St. Petersburg) zu besuchen. Derevo und AKHE arbeiten bereits seit mehreren Jahren zusammen. Diese Kooperation kommt auch nicht von ungefähr, die ästhetischen Ansätze ähneln sich. Semchenko verfolgt in „Imitation of dramatic machine“ aber diesmal einen gegensätzlichen Ansatz. Scheinbar irritiert von der Gegenwart des Publikums, versucht er unschlüssig einen Anfang. Während seines scheinbar reflexiven Traums mit einer Gurke fragt man sich, wohin das führen soll. Bis sich zeigt, dass Semchenko seine Aktionen ohne Sinn durchläuft. Die von ihm erzeugten Geräusche werden mit einem Echoeffekt versehen und ergeben so eine merkwürdige Form der Lautmalerei. Damit bewegt sich der „Laborant der Rampe“, wie er sich selbst nennt, nahe an der Grenze zum Absurden. Immer wieder muss sich Semchenko aufs Neue motivieren, seinen Nonsens weiter zu führen. Sinnfrei, ja. Aber ohne Zweck? Ein armer Weltenmensch, der vor den Dingen steht und versucht, nicht zu kapitulieren. Man könnte meinen, mit seinem Spiel hielte er das Publikum zum Narren. Aber für den, der ins Spielen vertieft ist, verschwinden Zeit und Raum. Für Publikum hat man da keine Aufmerksamkeit. Darf der denn das? Darf man heute noch „inhaltslos“ produzieren? Folgerichtig fragt Semchenko selbst: „Worum geht es denn überhaupt?“ Er zeigt deutlich, dass die Antwort darauf irrelevant ist, solange der Mensch nicht aufhört zu suchen. Das gilt ganz genau so für Derevo.